Familie L. Tietz
Leonhard Tietz
Leonhard Tietz wurde am 3. März 1849 als erster Sohn von Johanna und Jakob Tietz in Birnbaum (heutiges Międzychód, Polen) geboren. Ihm folgten noch 4 Geschwister. Seine Eltern betrieben dort ein Fuhrgewerbe und kleinere Handelsgeschäfte. Leonhard und sein Bruder Oscar gingen bei Verwandten in die Lehre. Nach Abschluss seiner Lehre zum Handlungsgehilfen (Commis) in Prenzlau trat Leonhard seine erste Stelle als Reisender für die Firma „Gebrüder Tietz“ in Birnbaum an. Hierbei gewann er Einblicke in die Vielfalt der Handelsgeschäfte, lernte alle wichtigen Fabrikationen stets auf dem neusten Stand kennen und konnte Verhandlungsstrategien erlernen, die ihm später von Nutzen waren.
Anfänge in Stralsund
Im Jahr 1876 übernahm Leonhard Tietz zusammen mit einem Birnbaumer Schulfreund die Firma „Winkelmann Nachfolger“. Im Jahre 1878 verlobte er sich mit seiner Jugendliebe Flora Baumann. Da sich nach Meinung seines Kompagnons ihre Ehefrauen nicht verstanden, wurde die geschäftliche Verbindung gelöst. Leonhard Tietz verließ die Firma „Winkelmann Nachfolger“ gegen eine Zahlung von 3.000 Talern. Dies war das Startkapital für einen Neubeginn in Stralsund. Am 14. August 1879 eröffnete Leonhard Tietz ein kleines Ladenlokal in der Ossenreyerstraße 31. Im Oktober desselben Jahres fand auch die Hochzeit mit Flora statt. Dem „hochgeehrten Publikum von Stralsund und Umgegend“ offerierte er Garne, Knöpfe und Posamente (Borten, Kordeln, Quasten usw.) sowie Wollwaren, außerdem „sämtliche Artikel zur Damen- und Herrenschneiderei“, wie man in der Eröffnungsanzeige lesen kann. Leonhard Tietz führte den 25 Quadratmeter großen Laden zusammen mit seiner Frau Flora sowie einer Verkäuferin und einem Lehrmädchen. Genau wie sein Konkurrent Georg Wertheim durfte sein Laden ohne Kaufzwang betreten werden und die festen Preise auf allen Artikeln waren klar ausgezeichnet. Auch bei ihm war ein Umtausch der Ware möglich. Die Geschäfte liefen bereits im ersten Jahr so gut, dass Leonhard Tietz mit seinem Geschäft in die Ossenreyerstraße 21 wechselte.
Expansion
Die begrenzte Kundschaft in Stralsund und Umgebung veranlassten Leonhard Tietz, Filialen außerhalb von Stralsund zu gründen. Die erste Filiale wurde 1884 im weit entfernten Schweinfurt eröffnet. Die Leitung übernahm sein Schwager Sally Baumann. 1888 folgte die Eröffnung einer weiteren Filiale im bayrischen Amberg, auch hier wurde ein Bruder von Flora, Max Baumann, als Geschäftsführer eingesetzt. Am 8. Mai 1889 eröffnete eine neue Filiale in der Stadt Elberfeld, heute ein Teil von Wuppertal. Schon nach drei Monaten wurde in ein größeres Haus umgezogen. Hier arbeiteten im ersten Jahr des Bestehens dann bereits 40 Angestellte. Den Schwerpunkt seines unternehmerischen Schaffens verlagerte Leonhard Tietz immer mehr in den Westen des Deutschen Reiches. Im Jahr 1890 zog er mit seiner Familie nach Elberfeld und verlegte den Sitz des Unternehmens in die Stadt an der Wupper. Bis zur Jahrhundertwende folgten weitere Tietz-Geschäfte, unter anderem in Köln, Aachen, Mainz, Düren, Düsseldorf und Bonn, ab 1900 dann auch mehrere in Belgien.
Tietz im 20. Jahrhundert
Am 11. Oktober 1902 eröffnete Leonhard Tietz auf dem zuvor erworbenen Grundstück das moderne Kaufhaus in der Ossenreyerstraße 19 in Stralsund. Die auch heute noch sichtbare Fassade stammt aus dem Jahr 1927. Am 17. März 1905 wurde die Leonhard Tietz AG gegründet. Das Gründungskapital betrug zehn Millionen Mark. Hiervon entfielen sechs Millionen Mark auf Leonhard Tietz, jeweils eine Million Mark auf die Mitbegründer und Schwager Sally und Max Baumann sowie auf die beiden Cousins von Leonhard Tietz, Louis Schloß und Willy Pintus. Im Jahr 1909 wurden die Aktien der Leonhard Tietz AG erstmalig an der Berliner Börse gehandelt. Im selben Jahr eröffnete das erste Großstadtwarenhaus von Leonhard Tietz an der Königsallee in Düsseldorf. Die Pläne für dieses Warenhaus stammen vom Architekten Joseph M. Olbrich. Die Leitung des Hauses übernahm der älteste Sohn von Leonhard Tietz, Alfred Leonhard Tietz. Im Jahre 1912 entstand ein weiterer Warenhausneubau in Elberfeld, entworfen vom Architekten Wilhelm Kreis. Das neue Stammhaus in Köln, gleichzeitig auch Sitz der Firmenzentrale und ebenfalls von Wilhelm Kreis entworfen, wurde einen Monat nach dem 65. Geburtstag von Leonhard Tietz am 8. April 1914 eröffnet. Leonhard Tietz starb am 14. November 1914 an einer Krebserkrankung und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Köln-Deutz beigesetzt. Die zweite Generation der Gründer der Leonhard Tietz AG übernahm ab 1919 die Firmengeschäfte. Der älteste Sohn von Leonhard Tietz, Alfred Leonhard Tietz, wurde Generaldirektor.
Seine Vettern Ernst und Franz Baumann und Julius Schloß sowie sein Bruder Gerhard wurden Mitglieder des Vorstands. Mit der beginnenden Inflation Anfang der 1920-er Jahre standen sie gleich vor großen Problemen. Mit der mehrmaligen Kapitalerhöhung und dem Eintritt eines Vertreters der Dresdner Bank, Walter Seidel, in den Aufsichtsrat gelang es die Krise zu meistern. Die Leonhard Tietz AG wurde in den kommenden Jahren konsolidiert und erfolgreich und expansiv weitergeführt. Der Einfluss der Banken auf das Unternehmen war durch die Kapitalerhöhungen allerdings gestiegen. Investoren aus den USA investierten 1925/ 1926 vier Millionen Dollar als Darlehen bzw.- Obligationsanleihen in die Leonhard Tietz AG. Mit der Machtergreifung der NSDAP setzten auch die Hetze und die Boykottmaßnahmen gegen die Leonhard Tietz AG ein. Bereits im März 1933 wurde von Tietz selbst damit begonnen, den Vorstand und den Aufsichtsrat umzubilden, indem diese Gremien jeweils zu 50 Prozent mit jüdischen und nichtjüdischen Mitgliedern besetzt wurden. Alfred Leonhard Tietz selbst zog sich aus dem Vorstand zurück. Ab Juli 1933 firmierte die Leonhard Tietz AG unter Westdeutsche Kaufhof AG. Der Wuppertaler Industrielle Abraham Frohwein wurde auf Wunsch von Alfred Leonhard Tietz Aufsichtsratsvorsitzender. Die letzten Tietz-Familienmitglieder schieden Ende September 1934 aus dem Unternehmen aus. Alfred Leonhard Tietz emigrierte mit seiner Frau, Kindern und Mutter Flora über Holland nach Palästina, wo er 1941 verstarb. Seine Witwe zog mit den Kindern in die USA. Sein Bruder Gerhard siedelte sich London an.
Wie es weiterging …
Die Kaufhof AG wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von Abraham Frohwein weitergeführt. Bereits im Jahr 1949 wurden mit den Alteigentümern Regelungen zu „Zahlungen rückständiger und laufender Gehalts- und Pensionsansprüche“ getroffen. Zu einer Abfindung für die während der Zeit des Nationalsozialismus abgenötigten Aktien kam es im Jahr 1951. Am 100- jährigen Firmenjubiläum 1979 nahm auch der Enkel von Leonhard Tietz, Ulrich Tietz, teil.