Familie Wertheim

Anfänge in Stralsund

Die Brüder Abraham und Theodor Wertheim eröffneten am 15. April 1852 ein „Manufactur und Modewarengeschäft“ in der Wasserstraße 14 in Stralsund. Geschäftlich trennte sich Abraham Wertheim bald danach von seinem Bruder. Er heiratete am 17. April 1855 Ida Wolff aus Prenzlau, Tochter des angesehenen Textilhändlers Wolf Loeser Wolff. Ida brachte innerhalb von 14 Jahren neun Kinder zur Welt. Ihre Söhne Hugo und Georg Wertheim absolvierten zu Beginn der 1870-er Jahre bei ihrem Onkel in Berlin eine kaufmännische Lehre. Nach deren Abschluss kehrten sie nach Stralsund zurück, um als Partner in die Firma ihrer Eltern einzutreten. Diese hatten am 17. November 1875 ein Wertheim-Geschäft in der Mühlenstraße 50, Ecke Mönchstraße, eröffnet. Hugo und Georg führten neue Geschäftsprinzipien ein, zum Beispiel konnten Kunden die Waren ohne Kaufverpflichtung anschauen, auch ein Umtausch der Ware war möglich. Eine weitere Innovation war die Einführung von Festpreisen. Ein Anschreiben der Rechnung war nun aber nicht mehr möglich, vielmehr bestand Barzahlungspflicht. Da die Geschäfte florierten, wurde das Haus in der Mühlenstraße 56 erworben und dort ein Geschäft eröffnet, welches gut anlief, sodass Georg Wertheim stolz in seinem Tagebuch vermerkte: „Wir hatten nun unstreitig das größte Detailgeschäft in Stralsund.“ In der zweiten Etage des Gebäudes konnten die Wertheims eine angemessene Wohnung beziehen.

Expansion nach Berlin

Nach dem frühen Tod von Hugo Wertheim am 23. Januar 1883 war nun Georg Wertheim für das Unternehmen hauptverantwortlich. Er initiierte die Expansion in weitere Städte. Die erste Filiale wurde am 1. April 1884 in Rostock eröffnet. Er gründete mit seinen Brüdern Wilhelm, Franz und Wolf eine Offene Handelsgesellschaft (OHG), die jedoch weiterhin „A. Wertheim“ hieß, und eröffnete 1885 ein reines Manufakturen-, Modewaren- und Damen Konfektionsgeschäft in der Rosenthaler Straße 27 in Berlin. Das Sortiment wurde um Trikotagen und Garne erweitert. Im Jahr 1890 eröffnete am Moritzplatz eine weitere Filiale, nachdem 1888 die gesamte Familie Wertheim nach Berlin gezogen war. Abraham Wertheim verstarb 1891. Die wirtschaftlichen Erfolge machten weitere Expansionen erforderlich. Der erste Warenhausneubau lag in der Oranienstraße. Das Gebäude mit vier Etagen und Lichthof, gestaltet nach dem Vorbild des Parisers „Grand Magasin“, eröffnete am 30. November. Im Jahre 1897 wurde dann ein weiterer Warenhausneubau in der Leipziger Straße 132/133 eröffnet. 1899 erfolgte ein Erweiterungsbau in der Leipziger Str. 134/135. Der markante Wertheim-Eckbau am Leipziger Platz schloss sich 1904 an. Architekt für all diese Gebäude war Alfred Messel. Das vielfältige Sortiment von Kleidung über Möbel, Lebensmittel und Kosmetik bis hin zu Baustoffen und Maschinen, die Warenpräsentation, aber auch die berühmte Architektur und die luxuriöse Innengestaltung zogen die Kundschaft an. „Wir gehen zu Wertheim“ war ein Slogan jener Zeit. Ein vierter und fünfter Bauabschnitt in den Jahren 1911/1912 sowie 1926/1927 sollten noch folgen.

Wertheim im 20. Jahrhundert

Am 5. Dezember 1903 eröffnete Wertheim das große Kaufhaus in der Ossenreyerstraße 8–10. 1927 wurde das Warenhaus erweitert, indem die Grundstücke Nr. 11 und 12 erworben und die beiden Giebelhäuser dort abgerissen wurden. Der imposante Lichthof, der noch heute zu sehen ist, stammt aus dieser Zeit. Das Warenhaus in Stralsund ist eines der wenigen erhaltenen Häuser des Wertheim-Imperiums. Der Erfolg der Wertheim-Warenhäuser war nicht aufzuhalten. Die aufkommende Kritik daran wurde vielfach von antisemitischen Ressentiments begleitet und bezog sich auch auf die WertheimKonkurrenz, u. A. Leonhard Tietz, Hermann und Oscar Tietz (Onkel und Bruder von Leonhard Tietz) sowie Salman Schocken. Auf Betreiben der mittelständischen Lobby verabschiedete das Preußische Abgeordnetenhaus am 18. Juli 1900 das Warenhaussteuergesetz: Warenhäuser mit einem Umsatz von über 400.000 Mark im Jahr hatten eine Sondersteuer zu entrichten. Diese Steuer führte jedoch nicht bei den Warenhäusern, sondern bei deren Produzenten und Lieferanten zu Umsatzeinbußen, da die Warenhäuser einen 3 %-igen Abschlag bei ihren Lieferanten durch setzten. Im Jahr 1929 erzielte Wertheim seinen höchsten Umsatz in Höhe von 131 Millionen RM, die anderen Warenhäuser erlebten schon in diesem Jahr starke Umsatzrückgänge.

Wertheim im Nationalsozialismus

Ab 1933 betrieben die Nationalsozialisten massive Propaganda gegen alle Warenhäuser. Am 1. April 1933 gab es einen reichsweiten Boykott gegen die jüdischen Geschäfte und Warenhäuser. Im Jahr 1934 schenkte Georg Wertheim sein gesamtes Vermögen seiner nichtjüdischen Frau Ursula, gleichzeitig wurde Gütertrennung vereinbart. Der Druck auf Wertheim ließ aber nicht nach, am 1. Januar 1937 vermerkte er in seinem Tagebuch: „Austritt aus dem Geschäft“. Das Vermögen von Ursula Wertheim wurde durch ein Konsortium verwaltet. Die Firma „A. Wertheim“ wurde im Oktober in den Konzern AWAG (Allgemeine Warenhaus Gesellschaft AG) umgewandelt und bestand so weiter. Auf Druck von außen ließen sich Georg Wertheim und seine Frau 1938 nach 32 Ehejahren scheiden, er verstarb am 31. Dezember 1939 an einer Lungenentzündung und wurde auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof in der Bergmannstraße in Berlin-Kreuzberg bestattet. Im Jahre 1941 heiratete Ursula Wertheim den ehemaligen Wertheim-Justiziar Arthur Lindgens, der zu dieser Zeit den Großteil der Firmenanteile verwaltete. Im Jahr 1933 umfasste die Wertheim-Familie 38 Mitglieder. Die allermeisten von ihnen emigrierten rechtzeitig in die USA. Drei Familienmitglieder wurden in Auschwitz umgebracht, drei weitere Familienmitglieder überstanden die Verfolgung in Verstecken.

Wie es weiterging…

Die meisten Grundstücke, die sich in den westlichen Bundesländern befanden, wurden nach dem Krieg an Hertie, die Gruppe der 1934 „arisierten“ Warenhäuser von Hermann Tietz, verkauft. Auf einem Teil dieser Grundstücke entstanden neue Kaufhäuser unter der Marke „Wertheim“, in Berlin zum Beispiel Häuser am Kurfürstendamm und in der Schlossstraße. In der sowjetischen Besatzungszone wurden alle Geschäfte und Grundstücke des Unternehmens A. Wertheim/AWAG, darunter auch diejenigen in Rostock und Stralsund, entschädigungslos enteignet. Zwischen den Erben der Wertheim-Familie und dem Hertie-Nachfolger Karstadt Quelle AG entwickelte sich nach 1989 ein komplizierter Rechtsstreit um die Grundstücke am Leipziger Platz in Berlin. Der Rechtsstreit konnte nach einigen Jahren beigelegt werden, indem sich die Karstadt Quelle AG bereit erklärte, an die Wertheim-Erben eine Entschädigung in Höhe von 88 Millionen Euro zu zahlen.

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